Mira zieht im Berliner Friedrichstadtpalast – im wahrsten Sinne des Wortes – die Fäden. Sie ist Gewandmeisterin und gestaltet Kostüme. Für „The One Grand Show“ arbeitet sie mit Stardesigner Jean Paul Gaultier zusammen.
Das ist Mira. So stelle ich sie mir nicht vor, als ich mich der Schneiderei näh-ere. Ich erwarte eine chaotische Frau im Vivienne-Westwood-Look mit rauchiger Stimme, die ihre Stecknadeln im Stoffhaufen sucht. Weit gefehlt, aber ziemlich faszinierend, welche Bilder man sich im Kopf zurecht legt. Eines rot-sticht mir allerdings sofort ins Auge: ein mehr als auffälliges Kostüm im Jessica-Rabbit-Style. In „The One Grand Show“ ist es das Kostüm von Travestiekünstlerin Devine.
Auf dem Weg zum Kostüm
Super spannend finde ich die „Geburt“ des sogenannten Bistouri-Mantels. Von der ersten Idee bis zur finalen On-stage-Version macht das gute Stück eine ziemliche Veränderung durch. „Das war ein anstrengendes Modell. Zuerst war es komplett aus Frottee. Dann kam Gaultier ganz vom Material weg“, so Mira. „Dann sollte aus dem langen Mantel ein kurzer werden. Und dann sollten Marabu-Federn dran, so dass es aussieht wie ein Pelzmantel. Das wurde zeitlich ganz schön knapp.“ Bistouri heißt auf deutsch übrigens Skalpell, was auch immer Jean Paul Gaultier uns damit sagen will. 🙂
Meine Vorstellung, dass es auf einer sogenannten Figurine (quasi die Kostümzeichnung) so detailliert aussieht wie auf einem technischen Schaltplan, offenbart mich als einen tapferen, aber naiven Schneider-laien. „Aus der Figurine geht nicht immer hervor, wie sich der Kostümbildner sein Modell vorstellt und was genau er sich wünscht“, gesteht Mira. Im Falle von Gaultier rückt ein ganzer Trupp mit Entwürfen an und verwirft sie wieder. Weitere Besprechungen und Anproben finden meist ohne den Meister himself statt, dessen Kalender logischerweise kaum freie Slots hat.
Der Weg zum Kostüm-Prototyp
An dieser Stelle des Prozesses kann Mira am kreativsten sein. „Du hast eine Vorlage und musst sie irgendwie umsetzen. Wie man zur Lösung kommt, ist das, was die Arbeit einer Gewandmeisterin ausmacht.“ So ganz frei ist sie bei ihrer Arbeit im Nährmuda-Dreieck allerdings nicht. „Ich muss drei Seiten bedienen: Der Tänzer muss zufrieden sein, das Kostüm muss ihm passen und er muss beweglich sein (1). Der Kostümbildner muss mit dem Modell zufrieden sein (2). Und das Kostüm muss haltbar sein, schließlich wird es zigfach gewaschen und durch die Tänzer beansprucht (3).“ Bis ein erster Prototyp entsteht, vergehen rund 10 Stunden. Mit Feedbackschleife und anschließender Änderung braucht Mira etwa 25 bis 40 Stunden bis zum ersten echten Kostümentwurf.
„Ich war nie so die Theoretikerin, sondern wollte immer was mit den Händen machen.“ So entscheidet sich Mira einst für eine handwerkliche Ausbildung, arbeitet erst in Düsseldorf und setzt später ein Studium in Dresden drauf. Sie schließt als „Diplom-Designerin für Kostümgestaltung“ ab und meistert seit August 2015 die Gewänder im Berliner Friedrichstadtpalast.
Damen oder Herren?
Super interessant finde ich als Nicht-Näher die Tatsache, dass man sich recht früh für eine Richtung entscheiden muss. „Viele wissen nicht, dass Herren- und Damenschneider-Ausbildungen total unterschiedlich sind. Verarbeitung, Material und Technik sind bei Herren sehr komplex.“ Mira hat quasi einen Doppel-Abschluss, kann also Kostüme für Damen UND Herren schneidern. Deshalb ist sie im Friedrichstadtpalast für beide Kostümgeschlechter zuständig. Du kannst also davon ausgehen, dass Mira bei allen Tänzern von „The One Grand Show“ ihre Finger im Spiel hat.
Steck statt Mett
Obwohl Mira äußerlich so gar nichts mit Vivienne Westwood gemeinsam hat, so erfüllt sie zumindest ausrüstungstechnisch alle Klischees, die ich mir vorab fein säuberlich zuschneide. Ein Maßband hängt um ihren Hals, überall liegen Scheren und Nadeln herum und am Arm trägt sie einen sogenannten Steck-Igel. „Das sind meine wichtigsten Accessoires, die brauche ich ständig. Wenn Anprobe ist, dann gibt es häufig Änderungen. Da muss es schnell gehen.“
Die Frage nach ihrer Lieblingsfarbe und ihrem Lieblingsmaterial bleibt unbeantwortet. Ich bin überrascht, schließlich hat doch jeder Dinge im Job, die er lieber mag als andere. Mira mag vor allem die Herausforderung an der Arbeit mit Kostümen. Und diese Herausforderungen gehen bei den Shows im Friedrichstadtpalast wohl niemals aus.
Warum „stellt man jemanden auf die Probe“?
Im Friedrichstadtpalast gibt es drei Gewandmeister. Vor der finalen Premiere einer Show stehen mehrere Wochen Probenphase an. In dieser Zeit kommen Mira und ihre Kollegen den Tänzern näher, als ihnen lieb ist. „Wir sitzen immer mit dabei und müssen meist direkt auf der Bühne was neu stecken.“ Diese Phase ist für alle Beteiligten äußerst wichtig, weil die Kostüme dann im wahrsten Sinne des Wortes „auf die Probe gestellt“ werden. Check.
Falls du Miras Arbeiten bewundern möchtest, dann hast du im Friedrichstadtpalast die Möglichkeit dazu. Fast jeden Abend ab 19.30 Uhr ist die Geschichte um einen besonderen Partygast zu sehen, samstags sogar um 15.30 Uhr. Die Revue „The One Grand Show“ ist die Nachfolgeshow von „The Wyld“, und sie läuft seit Oktober 2016. Tickets sind nichts für die kleine Nähkasse: zwar gibt es unter der Woche welche ab etwa 20 Euro und wochenends ab etwa 25 Euro, aber für die klassische Abendveranstaltung legst du gut und gerne mal um die 100 Euro hin.
Bewertung Friedrichstadtpalast
Den Blick hinter die Kulissen kannst du so in der Art vermutlich leider nicht nacherleben, aber Miras Meisterwerke schon. Mehr als 500 Kostüme von Jean Paul Gaultier (und natürlich von Mira) machen die Show zu einem visuellen Spektakel. Erwarte kein Musical und keine durchgehende Geschichte. Die Revueshow im Friedrichstadtpalast ist eine Aneinanderreihung von verschiedenen Szenen mit viel Tanz, Akrobatik und Musik. Oder wie Mira sagen würde, „geile Bilder mit Bühneneffekten aneinander gereiht“. Und ab sofort weißt du nun, wer dafür verantwortlich ist und wer wirklich die Fäden im Friedrichstadtpalast zieht. 🙂
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